Macht und Gerechtigkeit

In Diskussionen um Gerechtigkeit fragen wir uns oft, wie es eigentlich kommt, dass Menschen, oft sogar viele Menschen oder sogar die Mehrheit, sich durch Machtausübung ungerecht behandeln oder unterdrücken lassen, obwohl wir oder sogar diese selbst der Meinung sind, dass dies falsch sei.

Im Feminismus spielt die Machtausübung des Patriachats als Herrschaftsform der Väter eine große Rolle, weil es über gesellschaftliche Normen und Gesetze Frauen und ihre Rechte unterdrückt. Ebenso gibt es, seit es Geld, Besitz und damit Herrschende gibt, einen Kampf gegen die Macht des Geldes und eine dagegen gerichtete Ideologie.

Wenn uns eine gerechte Gesellschaft vorschwebt, in der zum Beispiel niemand Macht über andere hat, nur weil er beispielsweise durch eine Gesellschaft ein Verfügungsrecht über seine Frau zugesprochen bekommt, weil er die richtige weiße Hautfrabe hat oder durch Besitz von viel Geld andere Menschen dominieren kann, dann müssen wir uns fragen, warum das so ist und warum wir es offenbar so schwer ändern können. Machen wir einen grundlegenden Denkfehler? Oder sogar mehrere?

Was ist Macht

“Macht bezeichnet die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, auf das Denken und Verhalten einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile so einzuwirken, dass diese sich ihren Ansichten oder Wünschen unterordnen und entsprechend verhalten.”, so die Wikipedia.

Ich glaube, die Definition trifft es ganz gut. Im Fokus steht die Einwirkung auf Unterordnung, wobei zunächst offen bleibt, ob dies bewusst, unterbewusst oder vielleicht sogar mit Zwang gegen den eigenen Willen stattfindet. Selbst, wenn ich mich bewusst unterordne, heißt das nicht, dass ich es wirklich so wünsche. Vielleicht wähle ich nur das kleinere Übel oder ich arrangiere mich.

Wie bekommt jemand Macht

Bei gesellschaftlicher Gerechtigkeit stehen wir heute meistens vor einem Status Quo: Gefestigte Machtverhältnisse existieren in der Gesellschaft bereits, werden oft von der Mehrheit geduldet oder akzeptiert, z.B. bei Arbeitgebern, religiösen Gemeinschaften oder Regierungen. Aber damit jemand Macht ausüben kann, muss er sie ja erst einmal bekommen. Wie kommt also eine Person oder Gruppe zur Macht über andere?

Im Grunde gibt es nur zwei vorstellbare Wege:

  1. Jemand kann sich aufgrund seiner natürlichen körperlichen oder psychischen Überlegenheit und unter Androhung oder Anwendung ebensolcher Gewalt Macht aneignen oder
  2. jemand kann andere Menschen durch Überzeugung dazu bringen, sich ihm oder seiner Meinung anzuschließen und nun ist diese Gruppe stärker, als ein Einzelner alleine und kann gemeinsam Macht gegenüber Menschen ausüben, die nicht dieser Meinung sind bzw. dieser Gruppe angehören. Jede Gruppierung fängt übrigens immer mit der ersten Person an, die das will.

Alle weiteren Vorstellungen basieren auf diesen zwei Wegen: Sowohl die Vorstellung, eine Macht sei gottgegeben, weil auch dieser Gedanke bzw. diese Meinung bei einer ersten Person oder einem Religionsstifter beginnt, wie auch der Gedanke, Freie unter Freien würden sich zusammenschließen, weil auch dies bei einer ersten Person beginnt.

Im Grunde ist im ersten Fall die Macht per se schon durch die vorhandene Überlegenheit einer Person oder Gruppe gegeben, wird aber durch die Androhung oder Ausübung erst offenbar. Das ist ein extrem wichtiger Punkt. Denn dies bedeutet: Überlegenheit besteht unter Umständen, aber sie wird erst zur Macht durch ihre Ausübung. Eine Macht, die nicht ausgeübt werden kann, ist nicht existent.

Umgekehrt gibt es durch die körperliche, psychische oder geistige Überlegenheit nicht automatisch Macht. Eine Macht durch Überlegenheit ist nicht spürbar bis zu dem Zeitpunkt, wo sie sich das erste Mal offenbart.

Postulat: Macht entsteht faktisch: erst durch ihre Ausübung, durch den Willen zur Ausnutzung der Überlegenheit anderen gegenüber.

Im zweiten Fall wird diese Überlegenheit durch das Zusammenschließen von Personen erreicht.

Wie kann Macht gebrochen werden?

Insbesondere bei sozialen Missständen, wie bei Ausbeutung oder Unterdrückung, stellen wir uns oft die Frage, wie können die vorhandenen Machtverhältnisse geändert oder die Macht der Mächtigen gebrochen werden. Wir lesen dann Sätze wie, “Man müsste nur ….” oder “Wir entziehen uns dem, indem wir …”.

Dabei wird der Eindruck erweckt, wir könnten einen Sachverhalt ändern, um die Macht und Handlungshoheit in unserem Sinne wieder zu erlangen. Beispiele wären:

  • Wir kaufen unser Gemüse im Bioladen, um die Ausbeutung der Landwirte durch die Großkonzerne auszuhebeln. Wir kaufen nicht mehr bei Aldi, Lidl oder Amazon und stärken den örtlichen Einzelhandel.
  • Wir fahren nicht mehr Auto, um die Umwelt zu schonen und um die Arroganz der Automobilindustrie zu brechen.
  • Wir demonstrieren gegen die angedachte Urheberrechtsänderung der EU und üben so Druck aus, welcher die Regierungen zu einem Umlenken bewegt.

Aber es wird noch immer Gemüse gespritzt, trotz Klimawandels steigt die Anzahl der zugelassenen Fahrzeuge, vermehrt SUVs, in Deutschland immer weiter und die EU hat wegen der jemals größte Demonstration gegen ein Gesetzesvorhaben (Urheberrechtsreform Artikel 13/17) nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Wir haben weder in den Aufsichtsräten der Konzerne zur Hälfte Frauen, noch wird die Leistung von Pflegekräften stärker finanziell honoriert noch fahren wir alle Fahrrad, obwohl wir das ja eigentlich alle wollten. Und Männer geben seit Jahrtausenden an, wohin die Reise geht, führen Kriege, während Frauen in der Geschichtsschreibung zum größten Teil nur als Beiwerk vorkommen.

Warum ist das so?

Der Grund ist, dass wir uns selbst belügen. Und es sind mehrere Punkte, wie dies stattfindet.

  1. Wir präsentieren uns anders, als wir handeln. Wir halten uns für sozial, handeln aber vermehrt zu unserem eigenen Vorteil. Der Müll wird halt nur in die Landschaft geschmissen, wenn keiner guckt.
  2. Wir sind bequem und lassen lieber andere machen, wo wir nach unserem eigenen Bild Initiative ergreifen sollten. Das hat viele Vorteile: Wir können andere vorschicken und uns mit einem Satz von diesen Verlierern lossagen, wenn sie nichts verändert haben. Wir müssen uns nicht anstrengen und selbst, wenn wir selber mitmachen, müssen wir nicht die Verantwortung übernehmen, der andere steht mit seiner Person sozial in der Schuld. Hitler hat den Krieg gemacht.
  3. Wir ignorieren aus ideologischen Gründen unser Wesen als Mensch:
  • Wir halten uns für friedfertig, obwohl wir seit Jahrtausenden hochgradig agressive Verhaltensweisen an den Tag legen.
  • Wir halten uns für sexuell abgeklärt, obwohl die Sexualität jede kleine Interaktion zwischen Menschen mitbestimmt - viel mehr, als wir uns zugestehen wollen.
  • Wir sind sexuelle Wesen und wollen uns nicht so sehen, weil es uns tierisch und nieder vorkommt.
  • Wir wünschen, unabhängig von den jeweiligen Rechten, dass Frauen und Männer die gleichen gesellschaftlichen Rollen ausfüllen können, weil wir glauben wollen, dass wir nicht von der Natur determiniert sind.
  • Wir glauben, vielleicht auch aus dem gleichen Grund, dass unsere biologische und gesellschaftliche Geschlechterrolle größtenteils unabhängig voneinander wären, nämlich, weil es sonst unsere Souveränität einschränken würde.
  • Unter Umständen meinen wir auch, dass es keine Männer geben soll, die Männer lieben, oder Frauen, die Frauen lieben, oder Menschen, die sexuell noch ganz anders empfinden, nur weil es aufgrund unseres persönlichen Empfindens, eingebettet in die gesellschaftliche Gewohnheit, ggf. neu ist und zunächst irritiert und wir, wenn wir ehrlich sind, nur nicht bereit sind, uns mit dieser Irritation auseinander zu setzen.
  • Zu guter Letzt wollen wir nicht einmal sehen, dass wir als Menschen überhaupt so etwas, wie ein Wesen, haben, obwohl wir jeden Tag archetypische menschliche Handlungen und Verhaltensweisen, die wir alle gut kennen, zu spüren bekommen. Warum bekommt wohl in Filmen so oft der Held seine Prinzessin, nachdem er das Böse besiegt hat? Und warum haben gerade diese Filme solch einen Erfolg?

Fazit

In einem zusammengefasst: Wir sind eitel und verleugnen aus ideologischen Gründen menschliche Anteile an uns. Dieses Verleugnen führt uns zu falschen Schlüssen und somit zum persönlichen und gemeinsamen Misserfolg.

Aber unser größter Fehlschluss ist, dass wir der Meinung sind, dass Macht etwas ist, was jemand hat und nicht etwas ist, was wir ihm geben. Eine individuelle natürliche Überlegenheit ist hinsichtlich unserer Probleme als Menschheit recht unbedeutend. Und wenn, dann bleibt uns nur die Hoffnung eines Ausgleichs unserer Kultur wider unsere individuellen Natur, das ist ein dünner Mantel. Und Hoffnung hat viel Zeit.

Aber, alle Macht dieser Erde, sei es der amerikanische Finanzkapitalismus oder das indische Kastensystem, sei es die Macht der Parteien oder der Kirche, sei es, dass wir ständig Kriegsführung mitfinanzieren oder andere Staaten ausbeuten, all das ist dadurch möglich, dass wir alle Einzelne unsere Macht abgeben.

Und das eigentlich Schlimme daran ist, dass wir zu bequem sind, diese Dinge zu ändern, dass wir Vorteile in Anspruch nehmen und Nachteile systematisch verdrängen. Genau so sind wir Menschen und die Erreichung der Wahrhaftigkeit ist ein fernes Ziel für die meisten von uns.

Macht ist eine genetisch vorgegebene Möglichkeit menschlicher Befähigung, sie kann nie abgeschafft werden, auch, wenn wir uns das im Einzelfall wünschen. Eigentlich wünschen wir uns ja, selber Macht zu haben, wenigstens über uns und unsere Angelegenheiten, das ist auch legitim.

Dadurch, dass wir auf der einen Seite soziale Wesen sind, die prinzipiell das Gute für alle wünschen und auf der anderen Seite egoistische und eitle Wesen, die gerne bequem sind, wegsehen und verdrängen, so kann eine Überwindung unguter Machtverhältnisse nur dann gelingen, wenn wir uns an Ethik und Liebe orientieren, sofern wir selbst Macht ausüben und Bequemlichkeit und Verdrängung überwinden, wo es darum geht, ungute Machtstrukturen zu überwinden. Ein Zeigen auf andere und weiter im Status Quo zu verharren bringt gar nichts.