Als ich zu normal war

Dann war dieser Zeitpunkt erreicht, als die Veganer über mich herfielen. Ich glaube, ich hatte sowas gesagt wie, dass ich es gut fände, wenn man den Fleischkonsum reduziert und dass die Unterschiedlichkeit der Menschen respektiert werden sollte. Menschen sind nun mal unterschiedlich.

Normalverteilung Ich hatte zum Beispiel einen ehemaligen Freund, der meinte, er könne nur leben, wenn er jeden Tag ein großes Stück Fleisch auf dem Teller hätte. Er war ziemlich unausgeglichen und hatte immer nur so lange einen Job, bis er seinem Chef, weil dieser ja ein Scheiß-Kapitalist war, was auf’s Maul gehauen hatte.

Da waren auch diese Phantasien, gleichzeitig die Elbbrücken zu sprengen und den Elbtunnel, um der Hamburger Industrie mal so richtig eins auszuwischen — endeten meistens in einer Überdosis Wodka. Einmal kippte er besoffen von seiner Heizung auf den Video-Recorder, der krachend sein Leben aushauchte.

Irgendwas gefiel mir damals in meinen jungen Jahren an ihm nicht, aber er hatte auch etwas unglaublich Analytisches. Er kannte die verschiedensten Machtkonstellationen der internationalen Konzerne, wozu welche Supermarkt gehörte, wer hintenrum wieder an welcher Schraube gedreht hatte… Sozusagen das wandelnde Kapitalismus-Versteh-Buch.

Er war ein einsamer Mensch. Als er seiner Freundin morgens sagte, dass sie aussähe, wie ein Schwein (sie nahm Kortison, wegen einer Hautkrankheit), da war er für einige Zeit noch etwas einsamer und als ich zu meinem eigenen Geburtstag nicht kommen konnte, weil ich in der Firma jemandem helfen musste, war er auch mich los. Ich hatte versagt. Ich war dann auch irgendwie sowieso immer schon ein Scheiß-Spießer und Kapitalist gewesen. Ach ja, mit seiner Freundin war er dann auch wieder zusammen, weil, so war die Begründung, nochmal alles mit Kennenlernen von vorne, das wäre einfach zu viel gewesen. Da waren sie sich einig.

Gelernt habe ich, dass die Menschen unterschiedlich sind. Die beiden waren zum Beispiel anders, als ich. Ich zum Beispiel esse nun, nachdem ich 20 Jahre Vegetarierer war, wenig und eher selten Fleisch und viel Gemüse, dieser Ex-Freund aß quasi nur Fleisch und andere Menschen, die ich kenne, scheinen mit Veganismus oder Steini-Diät ganz gut klar zu kommen.

Und was bin ich nun? Mit welcher Gruppe kann denn nun ich gegen den Untergang der Welt kämpfen? Oder müssen die alle nur die Welt retten, weil sie sich selbst gar nicht mehr spüren?

Vielleicht ist es auch so: Es ist, wie in der Demokratie, es geht gar nicht darum, das Gute zu schaffen, sondern nur darum, das Schlechte zu verhindern? Sich in einer Gruppe Ruhm und Ehre zu erarbeiten, in dem man sich von der gegnerischen Gruppe fundamental abgrenzt, das ist doch auch was. Das schafft schon Bewunderung und ein Gefühl, für die gleiche gute Sache zu kämpfen. Schließlich kann man ja nicht einfach nichts tun.

Also als Mann will ich schon für den Feminismus kämpfen, eigentlich bin ich auch Feminist. Meine Freundin nicht, die ist einfach Frau. Aber ich könnte mich auch zum Beispiel voll low-carb ernähren. Nun, ja, stimmt, die Ernährungsdinger sind irgendwie abgegriffen.

Wie wär’s mit rechts oder links? Obwohl bei Aufstehen weiß man ja jetzt auch nicht so genau… Sind die jetzt links, weil sie den Reichen was wegnehmen wollen oder rechts, weil sie sich vorstellen könnten, dass man über das Thema freie Zuwanderung auch mal spricht? Und überhaupt, welcher Gruppe müsste sich denn heute der Linke oder der Rechte anschließen, wenn er es richtig macht?

Neulich bin ich mal einem begegnet, der hat einfach sein eigenes Ding gemacht. Da war nix mit vegan und mit Parteipolitik. Der hat einfach ne eigene Meinung von all den Dingen gehabt, das kam so ganz natürlich rüber. Eigentlich auch gar nicht so, wie die Masse, die ja immer so ist, wie — nicht wir. Also sozusagen immer — na, Masse halt.

Also dieserjenige Welcher hat zum Beispiel gewählt, obwohl doch jetzt eigentlich Protest-Nichtwählen in ist. Weil es ja eh nichts bringt und das System nur stärkt. Also, dieser jenige Welcher hat auch kein Facebook mehr und noch keine Alexa. Der redet noch mit seiner Freundin und das klappt richtig gut. Und der liest Bücher. Mal Pappe, mal elektronisch, aber immer so lange Texte. Ungewöhnlich.

Also dieserjenige Welcher bin ich. Und eigentlich will ich auch nicht für den Feminismus kämpfen, sondern eher dafür, dass Frauen wirklich die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten haben, wie Männer und dass sie auch ne Familie haben dürfen mit Kindern und nicht in Konzernen in Quoten gezwungen und dann abgeschlachtet werden.

Und für die Männer bin ich auch - ich bin ja gerecht. Und ich bin auch gar nicht verunsichert, wenn ich ne Frau einfach richtig geil finde und die das auch spürt, könnte ja inzwischen verboten sein. Das Thema hat sich ja aber mit dem jahrelangen Zusammenleben mit meiner Freundin eigentlich dann auch erledigt.

Aber, nun, was bin ich denn nun? Ein Normalo? Einer mit eigener Meinung? Geht Identität nur über die Gruppe? Oder ist das Reife, wenn man einfach man selbst sein kann? Oder bin ich einfach nur Minimalist, weil ich das alles nicht brauche?